Jakob ist das, was man einen alten Fasnachtshasen nennt, gut 30 Jahre ist er bei den Stänzler Tambour, hat von den Binggis über die junge Garde alle Stufen bis zum Stamm durchschritten und ist auch heute noch eine wichtige Stütze der Clique. Aber er ist auch seit zwölf Jahren verheiratet, und genauso lange liegt ihm seine Hedy in den Ohren, sie würde gerne mal die Fasnachtszeit zum Schifahren nutzen. Ein Dutzend Mal konnte er sich mit dem Spruch «Dieses Mal geht es nicht, aber nächstes Jahr bestimmt» vor dem fasnächtlichen Asyl in den Bergen drücken, doch nun steht das Ultimatum seiner Herzallerliebsten: «Ich fahre nach Sörenberg! Wenn Du nicht mitkommst, bitte – aber Du wirst dann schon sehen…» Das tönt ernst, dies weiss auch Jakob, und so tritt er den Canossa-Gang zum Cliquen-Obmann an, um ihm mitzuteilen, dass er ein Jahr – aus gesundheitlichen Gründen – pausiere.
Nun sitzt er also auf der Terrasse eines Bergrestaurants oberhalb Sörenbergs – und erst noch allein. Seine Holde versteht sich anscheinend prächtig mit dem Schilehrer und nimmt noch ein paar Privatlektionen, während er – das verflixte Loch vor der Talstation – seinen schmerzenden Knöchel pflegt. Seine Laune sinkt von Minute zu Minute, vor allem wenn seine Gedanken nach Basel schweifen, wo die Freunde in weniger als fünfzehn Stunden den Morgestraich pfeifen werden. So versunken in seine trüben Gedanken ist er, dass er die reifere Schönheit am Nebentisch gar nicht bemerkt, obwohl diese alles tut, um seine Aufmerksamkeit zu erregen.
«So schönes Wetter und so trübe Gedanken?», tönt es plötzlich neben Jakob, denn die Nachbarin hat kurzentschlossen an seinem Tisch Platz genommen. Er brummelt etwas von Knöchel, Sch…Schifahren und wie schön es jetzt andernorts wäre. «Ach ja, auch Basler, und eigentlich lieber an der Fasnacht, was?», tönt es zurück von Helen, wie sie sich jetzt vorstellt. «Da sind wir ja Leidensgenossen. Mir hat der Arzt die Kur in den Bergen verschrieben, ausgerechnet jetzt!» Da wurde Jakobs Ton doch schon etwas freundlicher, flugs war ein Halber Weisser bestellt, später noch einer, und das Gespräch wurde immer intensiver. Helen war bei einer Pfeifergruppe und hatte das Kur-Angebot unter anderem auch deshalb angenommen, weil ihnen der begleitende Tambour kurz vor der Fasnacht krank geworden war; ohne ihn wollten sie ohnehin nicht mitmachen.
Die Minuten plätschtern angenehm dahin, und Jakob vermisste immer weniger seine zum Schilehrer abgewanderte Holde, als vielmehr die Trommel- und Pfeifertöne, die in wenigen Stunden in der Basler Altstadt erklingen würden. «Eigentlich hätten wir uns früher treffen müssen», meinte er, «dann hättet Ihr einen Tambour, und wir wären beide nicht da.» Helen stutzte, lächelte plötzlich und griff zum Handy. Einige Anrufe später wurde dem ziemlich verblüfften Jakob klar, dass er beim Wort genommen wurde: Die pfeifenden Damen waren startklar, ebenso Helens Auto – und auch eine Trommel war organisiert. Und ehe er sich’s versah, sass er auf dem Beifahrersitz in Fahrtrichtung Basel.
Es wurde ein Morgenstreich wie aus dem Bilderbuch. «Kalt, aber trocken», wie Basels Kolumnist -minu es kurz aber treffend zu beschreiben pflegte, – und Jakob trommelte wie auf Wolken hinter acht «Nachtwandlerinnen» hinterher. Man genoss die verträumten Gassen der Altstadt, kehrte ab und zu ein, um aber gleich wieder ins fasnächtliche Getümmel unterzutauchen. Schon etwas erschöpft, aber unendlich glücklich, endete der Morgenstreich gegen halb acht in einem Cliquenkeller. Und da kam bei Jakob – nicht nur alkoholisch – die grausame Ernüchterung.
Da war er also aus Sörenberg abgereist, ohne seiner Hedy auch nur das geringste zu sagen und sass hier mit ein paar Damen, von denen er in einigen Fällen gerade mal den Vornamen wusste. Das schlechte Gewissen kroch in ihm hoch, was sich auch äusserlich unschwer bemerkbar machte. Helen bemerkte es, erkundigte sich und bekam eine Beichte zu hören, die sich gewaschen hatte. «So so, verheiratet bist Du, Du Schlingel! Dass hättest Du mir auch sagen können, bevor Du anfängst, mir den Kopf zu verdrehen. Jetzt rufst Du aber sofort Deine Frau an!» – sagte es und reichte Jakob das Handy. Dieser griff nach seiner Brieftasche, um die Telefonnummer des Hotels zu erforschen, wobei er sich so ungeschickt anstellte, dass sein Pass quer über den Tisch flog. Helen nahm ihn auf, sah neugierig rein – und erschütterte den armen Jakob mit einem tosenden Gelächter. «Du gibst besser mir das Handy», prustete sie, nachdem sie sich etwas gefangen hatte, nahm es und verschwand nach draussen.
Jakob war ziemlich perplex und blieb mit offenem Mund und mässig intelligentem Gesichtsausdruck sitzen, bis Helen wieder erschien. «Du hast Ausgang bis morgen früh, mit dem ersten Zug musst Du aber Richtung Sörenberg, sagt Deine Frau. Und morgen abend will sie von Dir zu einem Erstklass-Abendessen eingeladen werden.» So sprach Helen, und jetzt bekam Jakob den Mund gar nicht mehr zu. Helen klärte auf: Die Hedy war im selben Turnverein und mit ihr gut befreundet. Sie habe sich tatsächlich schwere Sorgen gemacht, aber auch ein schlechtes Gewissen gehabt, weil sie erst weit nach Mitternacht und ziemlich beschwipst ins Hotelzimmer zurückgekommen sei. Mit dem Schilehrer sei aber gar nichts gewesen… «Kurz und gut: Deine Holde ist kompromissbereit – und jetzt machen wir Fasnacht.»
Und es wurde Fasnacht gemacht – bis acht Pfeiferinnen ihren Tambour um sechs Uhr morgens auf den Bahnhof begleiteten. Und auch das feudale Abendessen in Sörenberg fand statt, allerdings nicht ganz zur Zufriedenheit der Jakobschen Gattin. Der Übermüdete schlief nämlich noch vor dem Nachtisch ein – dies aber mit einem äusserst seligen Grinsen auf dem Gesicht.