Für seine Heidi tat Rolf alles, auch wenn Heidi gar nicht die Seine war. Wenn es so gekommen wäre, hätte sich der Rolf aber nicht beklagt. So war es auch keine Frage, wer die Verse schrieb, als Heidi beschloss, mit einer Freundin zusammen Schnitzelbänke zu singen. Schliesslich war Rolf Schriftsteller, zwar kein erfolgreicher, aber immerhin. Rolf mühte sich also ab Dezember vor leeren Blättern, durchsuchte die Zeitungen nach möglichen Pointen, feilte an Wörtern und übergab ihr schliesslich den «Zeedel“ wie einen glühenden Liebesbrief, den er nie zu schreiben wagte. Ein warmer Blick von ihr, ein auf die Wange gehauchtes Küsschen war dem Rolf Dank genug, musste ihm genug sein, denn mehr gab es nicht.
Dann kam der ominöse Samstag, drei Wochen vor der Fasnacht. Rolf betrat seine Stammkneipe (eigentlich schwankte er eher, denn es war schon die siebte Station) und erblickte ein Häufchen heulendes Elend namens Heidi an der Bar. Zwischen zwei Schluchzern konnte er dem Gestammel entnehmen, dass sie sich mit ihrer Freundin restlos verkracht habe, die hätte ihr das Kostüm um die Ohren geknallt und gesagt, sie würde lieber in einer Guggenmusik mitmachen als mit ihr Schnitzelbängge zu singen. «Ausgerechnet zu einer Gugge!», kam es anklagend schluchzend aus Heidi’s Mund. Und dabei habe der Rolf doch so herrliche Verse gemacht, dies sei alles für die Katz, denn in so kurzer Zeit sei doch kein Ersatz aufzutreiben.
Und dann geschah’s. Durch den Nebel seiner fünfzehn Café Lutz hörte Rolf seine eigene Stimme: «Doch, Du hast Ersatz! Ich singe mit Dir.» Das Erschrecken über seinen eigenen Mut wurde rasch unterbrochen durch einen Kuss – zum ersten Mal auf den Mund. Den salzigen Geschmack von seinen Lippen leckend, nahm er ihre Zustimmung zu diesem waghalsigen Plan entgegen, auf dem Heimweg durfte er den Arm um ihre Hüften legen, ja sie schmiegte sich sogar leicht an ihn. Zum alkoholischen Nebel kamen nun noch die Wolken der Seeligkeit. Und diese verschwanden auch nicht, als sich Heidi vor ihrer Haustüre entschuldigte, sie könne ihn nicht noch hinaufbitten, sie sei müde und müsse jetzt erst mal überlegen. Schliesslich würde man sich bereits morgen wieder treffen.
Es folgten Tage innigen Zusammenseins, zumindest aus Rolfs Warte. Einen Kuss wie den von Samstag-Abend gabs zwar nicht mehr, aber man übte zusammen die Verse, die Melodie, änderte das Kostüm – kurz: man war zusammen. Rolf schwebte förmlich der Fasnacht entgegen, und nur in den seltenen lichten Momenten wurde ihm klar, dass er eigentlich keinen Schritt vorwärts gekommen war – er war immer noch der beste Kumpel, jetzt eben auch fasnächtlich.
Die ersten Auftritte an der Fasnacht gingen voll in die Hose. Was beim Üben zuhause noch locker lustig getönt hatte, tönte nun gequält, die Mundharmonika-Sequenzen zwischen den Versen waren schräg statt melodiös und das Publikum hohnvoll statt lustvoll. Zum Eklat kam es in der vierten Kneipe, als eine Gruppe von Trommlern einer Stammclique mitten in ihren Vers den Refrain des früheren Spitzenbankes «Wulleknäuel» hineingröhlten. Heidi klappte den «Helgen» zusammen, raste aus dem Lokal und versank auf der Treppe in Tränen. Alle Tröstungsversuche von Rolf waren vergebens, selbst seine sonst gern gesehenen Scherze (Aller Anfang ist schwer, darum heisst es im Französischen ja auch Enfant terrible) konnten kein Lächeln auf ihre Lippen zaubern. Immerhin konnte Rolf «seine» Heidi davon abbringen, die Flinte gleich ins Korn zu werfen; man beschloss, erst einmal in einem Cliquenkeller aufzutreten, wo man sich ein dankbareres Publikum erhoffte.
Die beiden zogen den Nadelberg hinauf, sie noch leise schluchzend, er betont locker und fröhlich. «He, Ihr zwei!», tönte von links eine Stimme. Die dazugehörende Gestalt lehnte sich aus einem Fenster, dahinter war Stimmengewirr zu vernehmen. «Kommt doch zu uns, bitte; wir haben so lange schon keinen Schnitzelbank mehr gehört!» Die beiden schauten sich an, Heidi zuckte mit den Schultern, als wollte sie sagen: schlimmer kann’s auch nicht mehr kommen. Und so stand der bisher so unglückliche «Bangg» vor rund drei Dutzend erwartungsfrohen Gesichtern. Der erste Vers ging – abgesehen von einem Holperer – ganz ordentlich, das Publikum lachte und applaudierte. Nach dem zweiten Vers schwoll der Applaus sogar noch an, und als Rolf spontan noch einen frechen Jauchzer in den dritten Vers einbaute, war die Stimmung komplett. Heidi und Rolf wurden immer sicherer, das ganze Programm wurde gesungen, und eine stehende Ovation beendete die Vorstellung. Mit stolz geschwellter Brust wollten die beiden das Lokal verlassen, wurden jedoch sofort zurückgerufen und zum Wein eingeladen.
Nach dem dritten Halben erkundigte sich Rolf, wo man eigentlich sei. In der SAC-Hütte, wir sind die Basler Sektion des Schweizerischen Alpen-Clubs, hiess die verblüffende Antwort, «jawoll, die gibt’s». Und noch verblüffender war der nächste Satz ihres Tischnachbars: «Ihr seid ein richtig herzliges Paar!» Die Augen der beiden trafen sich, verweilten sehr sehr lange – und dann erhielt Rolf seinen zweiten Heidi-Kuss, viel länger als der erste und viel inniger.
Es war nicht der letzte auf der Route, die sie nun zwar nicht hochklassig, aber mit Bravour bewältigten. Am frühen Dienstag-Morgen endete ihr Zusammensein auch nicht vor Heidi’s Haustüre… und am zweiten Bummelsonntag weckte Rolf seine (!) Heidi mit Schalk im Blick und einem Formular in der Hand. Es war die Beitrittserklärung zum SAC.