In jedem Verein gibt es ihn (oder sie), die Person, die immer da ist, wenn etwas zu tun ist – jemand, der eigentlich nie Zeit hat, aber trotzdem immer wieder überredet wird, ein Amt zu übernehmen, eine Arbeit auszuführen. Kurz: überall vorhanden ist sie und unverzichtbar ist sie: die Seele des Vereins. Bei der Pfeifer-Gruppe Knorzi ist es der Kurt. Wenn Larven kaschiert, Kostüme gereinigt oder die Toiletten des Cliquenkeller geputzt werden müssen – Kurt ist da. Kurt hat schon bessere Zeiten gesehen, mittlerweile ist er über 50, hinter seinem Bauch können sich die meisten der jungen Garde bequem verstecken, und er ist ein Grantler.
Das heisst, eigentlich ist er die Gutmütigkeit in Person, aber er weiss es geschickt zu kaschieren. Wenn man ihn um einen Gefallen bittet, kommt erst einmal eines: Fluchen. Ob denn alle anderen «numme fuuli Sieche» sind, ob denn immer er «dr Duubel» sei… und so fort murmelt er Nettigkeiten in den nicht vorhandenen Bart. Diese Zeremonie muss vorher sein, danach krempelt er die Ärmel nach hinten und legt los. Überschwengliche Dankeshymnen danach mag er gar nicht, nichts gegen ein spendiertes Bier, aber «Trinkgeld» lehnt er kategorisch ab. Die Clique ersetzt ihm die Familie, die er nie gegründet hat; wenn er – was selten vorkommt – vom Alkoholgenuss gesprächiger wird, gibt er dies auch durchaus zu – nicht ohne hinzuzufügen, dass ihn diese Familie wesentlich billiger kommt und weniger ärgert als eine richtige.
In letzter Zeit ist der Kurt aber nicht mehr der alte, dass merken seine Cliquen-Kollegen spätestens, als er den Auftrag, die Tombola für das Gartenfest zu organisieren, nicht mit dem üblichen Donnerwetter, sondern mit einem resignierenden Seufzer annimmt. Immer stutziger wird man bei den Knorzi, als er einen ganzen Monat zwar brav an jedem Hock im Keller erscheint, aber eben brav – kein jähzorniger Ausbruch, ja nicht einmal ein kleines Murren. Ob er wohl krank ist? Zum Eklat kommt es bei der Vorstellung des Sujets. Schorsch, der Vereinssekretär, wendet sich an das Cliquen-Faktotum mit der spöttischen Bemerkung: «Du wirst langsam alt, Kurt – Du hast Dich noch nicht auf die Zugsliste für die Fasnacht eingetragen.» Kurt hebt nur langsam den Kopf und murmelt: «Ich pausiere dieses Jahr.» Dieser lapidare Satz schlägt in die Versammlung ein wie eine Bombe – man könnte ein Räppli zu Boden fallen hören. Nach 24 Jahren hintereinander plötzlich pausieren? Alles Nachfragen bleibt umsonst; mehr als «Ich pausiere» ist aus dem Kurt nicht herauszubekommen.
Basel ist ein Dorf, wenn man will, erfährt man alles. Und als man erfährt, warum der Kurt in diesem Jahr nicht will, da merkt man auch, wie wenig man sich um ihn gekümmert, wie wenig von seinem persönlichen Drama man in der Clique mitbekommen hat. Der Kurt war in einem kleineren chemischen Betrieb angestellt, fast dreissig Jahre hatte er auch dort die Rolle des Haus-Faktotums inne. Den Sparmassnahmen der letzten Zeit ist aber auch er zum Opfer gefallen – seine Funktion wurde «reorganisiert». Und nun kann er sich die 650 Franken für Larve und Kostüm schlicht nicht leisten. Man diskutiert, wie man ihm helfen könnte, aber dies ist gar nicht so einfach. Der Kurt hat seinen Stolz, schenken lässt er sich nichts. Aber, dass er nicht dabei sein sollte…dies darf doch nicht sein.
Kurt selbst kommt es in der Clique langsam seltsam vor. Gespräche verstummen, wenn er erscheint, man tuschelt und bei Vorstandssitzungen, an die er – obwohl nie in ein Amt gewählt – immer kam, macht man ihm schonend aber deutlich klar, dass man interne Sachen zu regeln habe. «Interne Sachen, ha!», denkt er sich; er kennt doch wohl alles, was bei den Knorzi intern ist. In den letzten Wochen vor der Fasnacht zieht er sich immer mehr zurück, kommt nicht einmal mehr an den Freitags-Stamm. Und – obwohl es ihm alles zusammenschnürt – an die Laternen-Vernissage geht er nicht; er sitzt zuhause und schaut sich die 27. Wiederholung einer Bonanza-Folge an… als es klingelt. Vor der Tür stehen der Willi, seines Zeichens Präsident der Knorzi, Steffi, sein Vize, und auch der Karli als Sekretär steht da, einen kleinen Koffer schleppend. Kurt ist so baff, das Trio muss ihn erst zweimal bitten, bevor er sich aufrafft und sie hereinlässt.
«Du Kurt, wir müssen uns bei Dir entschuldigen», hebt der Willi schliesslich an. Es sei ein unverzeichliches Versehen… man wisse auch nicht, wie das passieren konnte… die ganzen Knorzi hoffen, er könne ihnen verzeihen… und so weiter. Kurt weiss nicht, wie ihm geschieht, was los ist. «Wir haben uns lange überlegt, warum Du plötzlich so seltsam warst, lieber Kurt», fängt der Willi nun in salbungsvoller Präsidenten-Manier an, «dann war es uns klar. Schliesslich steht in den Statuten ja, dass jedes Mitglied, welches das 25. Jahr hintereinander bei den Knorzi Fasnacht macht, vom Verein einen Becher kriegt und Kostüm samt Larve gestellt wird. Ausgerechnet bei Dir haben wir es vergessen.» Kurt ist verwirrt, und dies bessert auch nicht, als die Entschuldigungen immer eindringlicher werden, als man ihn inständig bittet, doch an dieser Fasnacht trotzdem teilzunehmen. «Aber ich hab doch kein Zugskostüm», stammelt der völlig Überraschte. «Doch, das hast Du», meldet sich Karli und öffnet den Koffer. Kostüm und Larve schauen neckisch daraus hervor. Mit ernstem Gesicht wendet sich der Presi nochmals an Kurt: «Wenn Du nicht mitmachst, pausiere ich auch; schliesslich ist es mein Fehler.» Und Steffi ergänzt: «Ich auch, wer montiert mir sonst das Licht der Kopflaterne wie jedes Jahr.»
Kurt schaut seine Freunde lange mit unbewegtem Gesicht an, dann nimmt er die Larve in seine schwieligen Hände und betrachtet sie von allen Seiten. «Man merkt schon, ich war beim Larven-Kaschieren nicht dabei», grummelt er, «das ist doch Laferizeugs.» Die Vorstandskollegen schauen sich mit einem Mal erleichtert an. Der Kurt ist wieder der alte, die Fasnacht ist gerettet… und die Statuten kennt der Kurt zum Glück auch nicht.