Es gibt Leute, die tragen an der Fasnacht schwer. In der Guggenmusik sind es die Sousaphon-Spieler, in den Cliquen die Laternenträger. In den meisten Cliquen wird zwar nicht mehr getragen, sondern gezogen; Träger sind schwer zu finden, und so ist das charakteristische Schwanken der grossen Lampen am Morgenstreich kaum noch zu sehen. Bei den «Basler Bibbeli» aber wurde noch getragen – und Heinz war einer dieser Träger. Für etwas anderes wäre er auch kaum zu gebrauchen, ein Piccolo verschwand in seinen wulstigen Fingern und beim Trommeln – das hatte er mal versucht – hatte des öfteren der Nebenmann die Schlegel am Kopf. Kurz: Heinz war etwas ungeschickt, geistig auch nicht der Hellste, aber als Laternenträger war er grosse Klasse.
Angefangen hatte es bereits in der Jungen Garde der «Basler Bibbeli», als einer der von ausserhalb verpflichteten Träger am Morgenstreich schlicht nicht erschien. Heinz sprang ein… und blieb dabei. Auch beim Stamm war man bald um ihn froh, denn Geld wollte er keines dafür, während für Laternenträger sonst leicht einige hundert Franken locker zu machen waren. Heinz aber machte es aus Freude, er hatte seine Aufgabe gefunden und war stolz, gebraucht zu werden. Dabei war er alles andere als gut betucht; dass ihm die Cliquen-Kollegen in den Baizen meist den Becher bezahlten, das konnte er gut gebrauchen, auch wenn er es nie zugegeben hätte.
Das Unglück nahte zwei Monate vor der Fasnacht. Heinz wachte eines Morgens auf, und sein Rücken schmerzte, nein, tat höllisch weh. Gebeugt wie ein Fragezeichen schlich er abends zur Probe und durfte sich dort die in solchen Fällen üblichen lustigen Sprüche anhören, von der Hexe, die ihn wohl geschossen habe, und so weiter. «Geh schnell zum Arzt, wir brauchen Dich an der Fasnacht», war da immerhin auch noch ein nützlicher Rat dabei, und den nahm sich Heinz zu Herzen. Denn gebraucht werden wollte er. Der Arzt untersuchte, röntgte und zog die Stirn besorgt in Falten. «Von wegen Hexenschuss, ein Wirbel ist verschoben. Da hilft nur Therapie und viel, viel Schonung; mit Bierharassen schleppen ist es für längere Zeit vorbei», meinte der Mann in Weiss – und genau diese Farbe nahm Heinz‘ Gesicht an. «Aber… ich muss doch… die Laterne… an der Fasnacht!» Die Antwort des Doktors war niederschmetternd: mit dem Laternentragen sei es nicht nur an der diesjährigen Fasnacht, da sei es für alle Zeiten aus. Wenn sich der Wirbel noch mehr verschiebe, drohe ein Druck auf das Rückenmark und schliesslich der Rollstuhl, so lautete die Prognose, vorgetragen mit der ernsten Stimme, die nur Ärzte im Repertoire haben.
Zur nächsten Probe der «Basler Bibbeli» schlich Heinz nicht nur äusserlich, sondern auch seelisch gebeugt. Und sein Geständnis, nie mehr den Laternen-Holm anfassen zu können, verursachte bleierne Stille im Cliquenkeller. Nicht, das man Probleme hätte, noch einen Träger zu verpflichten oder die finanzielle Belastung gescheut hätte. Nein, man wusste, welche Welt bei Heinz zusammengebrochen war. Selbstverständlich bot man ihm sofort an, im Vortrab mitzulaufen, aber man sah es dem Geplagten deutlich an: ihn machte unglücklich, dass er nicht mehr gebraucht wurde. Heinz machte sich rar, erschien kaum mehr bei den Proben der «Basler Bibbeli» und war auch am Stamm nicht mehr zu sehen. Es wurde still um Heinz – und in Heinz…
Schliesslich kam der Sonntag vor dem Morgenstreich. Heinz sass in seiner Stammbaiz und sprach – wie so oft in den letzten Wochen – dem Alkohol in beträchtlichem Masse zu. So nahm er erst spät wahr, dass links und rechts von ihm Stühle gerückt wurden. Es waren zwei von den «Basler Bibbeli», die ihm da auf die Schulter klopften. «Trinkst Du Dich warm für die Laternen-Vernissage?» Heinz schüttelte den Kopf. Da wollte er nicht hin, was sollte er denn dort – er wurde ja nicht mehr gebraucht. Das Duo liess aber nicht locker, mit sanfter Gewalt wurde der Widerstrebende aus dem Lokal und hinein ins Taxi bugsiert. Und schnell war man im Hinterhof vor dem Cliquenlokal.
Da stand sie: die noch mit grossen Tüchern verhüllte Laterne, die Heinz jahrelang getragen hatte. Durch die Alkoholschwaden nahm er wahr, dass irgendetwas anders war. Kam es ihm nur so vor, als ob die «Lampe» dieses Jahr höher war als sonst? Der obligate Weisswein wurde kredenzt, die Pfeifer spielten zu Ehren der Laterne, und dann ergriff der Präsident der «Basler Bibbeli» das Wort. «Ihr wisst, dass Heinz als Laternenträger absagen musste. Mittlerweile haben sich auch noch zwei andere Träger zurückgezogen und neue konnten nicht gefunden werden. Lieber Heinz», wandte sich der Preesi direkt an den nun ziemlich Verstörten, «wir brauchen Dich ganz dringend… und wir haben uns etwas einfallen lassen.» Die Tücher, welche die Laterne verhüllt hatten, sie fielen, und nun war auch zu sehen, warum die Laterne höher schien. Sie stand auf einem flachen Wagen, vorne eine Deichsel mit einem Schalter: ein Elektromobil. Sanft wurde Heinz herangeführt, mit der Technik vertraut gemacht, und unter dem brausenden Applaus der Umstehenden drehte er eine erste Runde im Hof, fast blind durch die Tränen der Glückseeligkeit.
Der Weg der Laterne vom Cliquenlokal zum Abmarschort für den Morgenstreich – es wurde eine Triumpffahrt. Stolz pilotierte Heinz sein Gefährt, mit sanften Schalterbewegungen beschleunigte oder verlangsamte er das Gefährt. Es würde eine schöne Fasnacht werden, durchfuhr es ihn warm. Er wurde wieder gebraucht.